Fragen zum Alter Die Lebensphasen und die vier verschiedenen Ebenen des Alterns

Wenn der Volksmund sagt, dass ein Mensch nun „alt“ geworden sei, meint er damit nicht wirklich das Alter, sondern die Gebrechlichkeit, Krankheit und/oder Pflegebedürftigkeit eines Menschen. Aber wir können zu einem objektiveren Altersbild beitragen, indem wir in Diskussionen darauf achten, Alter und Krankheit zu unterscheiden. Denn alt zu sein bedeutet in der Regel, dass wir mit körperlichen Einschränkungen leben, jedoch nicht zwingend krank sein müssen.

In der Fachwelt wird das Leben der Menschen in verschiedene Lebensphasen unterteilt. Vorherrschend ist die Einteilung in vier Phasen, die ich Ihnen im Folgenden mit ihrem Bezug zu unseren Vorstellungen über das Alter und den Tod vorstelle:

Phase I: Die Kindheit und Jugend

Heute sind die meisten Kinder gesund, wenige krank. Dies war nicht immer so, auch in der Schweiz nicht. Vielmehr wurden in früheren Zeiten Sterben und Tod vor allem mit der Kindheit assoziiert, weil die Kindersterblichkeit extrem hoch war. Nur wer die kritischen Jahre der Kindheit überstand, hatte gute Chancen, das Erwachsenenalter zu erreichen.

Phase II: Das Erwachsenenalter

Als erwachsen gelten Menschen zwischen Volljährigkeit und 60 und früher war das Sterben im Erwachsenenalter nichts Aussergewöhnliches. Kriege, Arbeitsunfälle und schwere Krankheiten führten in früheren Zeiten oft zum Tod von Erwachsenen. Vor allem aber war das Risiko für Frauen gross, im Erwachsenenalter zu sterben: Der Tod im Kindbett war nichts Aussergewöhnliches. Dank medizinischem Fortschritt sind solche Todesfälle äusserst selten geworden, Gebärende sterben in der Schweiz nur noch in Ausnahmesituationen.

Während zu früheren Zeiten jede Familie auf irgendeine Weise mit Todesfällen  konfrontiert  war,  kennen  wir  den  Tod  nur noch aus weiter Ferne und vor allem nicht als Gast in den ersten zwei Lebensphasen. Stirbt jemand vor 60, empfinden wir seinen Tod als verfrüht, als mitten aus dem Leben gerissen. Dementsprechend gelassen blicken wir auf die zwei ersten Lebensphasen. Wir gehen davon aus, dass wir dank guter medizinischer Versorgung nicht befürchten müssen, in diesem Alter sterben zu müssen.

Phase III: Von 60 bis 75 (je nach Konstitution auch bis 80/85)

Dieses Lebensalter gehört nicht mehr zum Erwachsenenalter, sondern zur Lebensphase „Alter“, kann jedoch auch als Übergangsphase zwischen Erwachsenenalter und hohem Alter angesehen werden. Heute gilt in der Schweiz ein Grossteil der Menschen in diesem Lebensalter als gesund, auch wenn gewisse körperliche und geistige Einschränkungen in Kauf genommen werden müssen.

Die grosse Zeitspanne der Phase III zeigt auf, dass es nicht möglich ist, das Alter allgemein zu betrachten. Die verschiedenen Persönlichkeiten erleben die Zeit zwischen 60 und 80/85 Jahren auf höchst unterschiedliche Weise.

Wie auch immer jedoch das Leben im dritten Lebensalter aussieht, wie gut es auch gelingt, die diversen körperlichen Einschränkungen zu kompensieren oder zu verdrängen, gibt es Tage oder Zeiten, an denen sich die Verletzlichkeit der letzten Lebensjahre erahnen lässt. Es kann auch sein, dass subtile Veränderungen im Denken und Fühlen wahrgenommen werden, die nicht einzuordnen sind. Oder eine leise nicht definierbare Unzufriedenheit macht sich breit, obwohl im Alltag viele Glücksmomente gesammelt werden.

So individuell das dritte Lebensalter auch sein mag, es hält für uns universale Aufgaben, Herausforderungen und Chancen bereit, die fernab vom Versuch, nicht zu altern, liegen.

Als eine prioritäre Aufgabe würde ich das Kennenlernen der sich verändernden Lebensbedingungen ansehen, damit verbunden auch das Anerkennen der realen Lebenssituation im dritten Lebensalter. Wie sonst kann es uns gelingen, die Chancen der Veränderungen zu nutzen, wenn wir uns weigern, Veränderungen wahrzunehmen und so tun, als ob wir nicht altern würden. Denn das von mir in der Einleitung beschriebene Gefühl, meinen Vater im Alter nicht zu verstehen, weil wir auf verschiedenen Planeten lebten, hat damit zu tun, dass ich damals das Alter auf das rein Körperliche beschränkte.

Die reale Lebenssituation im dritten Lebensalter erfassen wir jedoch nur, wenn wir den Blick auf das Altern erweitern. Wir altern nämlich auf verschiedenen Ebenen: der physischen, der psychischen, der sozialen und der kulturellen.

Die folgenden Ausführungen zum physischen, psychischen, sozialen und kulturellen Altern stützen sich auf das Buch „Altern in unserer Zeit“[1]:

Das physische Altern

„Die physische Wandlung im Altersprozess lässt sich als Radikalisierung der leiblich verfassten Grundsituation des Menschen bezeichnen: Der früher in der Regel problemlos-unauffällige Leib, die Gelenke, Herz und Kreislauf – sie treten zunehmend in eigensinnigen Befindlichkeiten störend auf und es meldet sich die naturabhängige Basis allen endlichen Lebens. Man hat den Menschen als ‚Mängelwesen‘ bestimmt und diese Mangelhaftigkeit wird im Alter immer grösser.“[2] Tatsächlich tritt die körperliche Mangelhaftigkeit im dritten Lebensalter noch nicht sehr dominant auf. Wir sehen, dank entsprechender Pflege und Ernährung noch jung aus, sind dank guter Betreuung und genügend körperlicher Aktivität in der Regel noch fit und beweglich.

Anti-Aging zielt auf die Vermeidung des physischen Alterns hin und dies gelingt – ehrlich gesagt – im dritten Lebensalter recht gut. Allerdings glaube ich nicht, dass das physische Altern in dieser Lebensphase das grösste Problem darstellt. Der Grossteil der Schweizer im dritten Lebensalter muss zwar mit gewissen körperlichen Einschränkungen leben, gilt aber als körperlich gesund. Leiden wir jedoch an einer lebensbedrohlichen Krankheit, katapultiert uns diese sofort in das vierte Lebensalter (s. unten).

Das psychische Altern

Unter psychischer Alterung versteht Prof. Dr. Thomas Rentsch den Umstand, dass man noch eine in jüngeren Jahren ausgebildete personale Identität mit ins Alter bringt. Eine Identität, mit der man vertraut ist und die man sich selbst in den Jahren des aktiven Lebens mit eigenen Sinnentwürfen erschaffen hat, jedoch nicht mehr zum physischen Alterungsprozess passt.

„Man könnte von einer Verspätung der als Jugendlicher und Erwachsener gewonnener Identität bei ihrem Ankommen im körperlichen Alterungsprozess sprechen. Es erfolgt auf der psychischen Ebene zudem eine radikalisierte Zeiterfahrung, die sich durch den Verlust von Angehörigen, Freunden und Verwandten der eigenen Generation verstärkt.“ [3]

Dies will heissen: Innerlich fühlen, denken, handeln wir wie der Mensch, der wir noch vor ein paar Jahren waren. Wir haben uns eine Identität aufgebaut, die uns Selbstbewusstsein gibt. Wir sind innerlich in unserem Denken, Fühlen, Handeln und Sein noch jung und mit dieser Identität der jungen Jahre verbunden. A b e r , dieser innere Mensch, der wir glauben zu sein, passt in keiner Weise zu diesem „alt“ gewordenen Menschen, der die Frechheit hat, uns am Morgen im Spiegel zu begegnen.

Eine Bekannte von mir meinte zu diesem Thema, dass sie beim morgendlichen Blick in den Spiegel denke: „Wer um Gottes Willen ist das? Das kann auf keinen Fall ich sein! Ich weigere mich, diese Person zu werden, die mich da aus dem Spiegel anschaut, ich bin doch noch jung!“

Bei Männern äussert sich das psychische Altern vielleicht auf andere Weise, weil ihre Identität weniger von ihrem Aussehen abhängig ist. Das psychische Altern erkennt man bei Männern eher daran, dass sie, obwohl sie bereits 10 oder 15 Jahre aus dem Arbeitsprozess ausgeschieden sind, noch immer von ihren Entscheidungen als einflussreicher Manager sprechen. Ihre innere Identität des entscheidungsfreudigen Managers passt dann in keiner Weise mehr zum aktuellen Lebensalter.

Das Loslassen der früheren Identität und der Aufbau der zum Lebensalter passenden Identität gehört wohl zu den schwierigsten Aufgaben nach der Pensionierung. Je angesehener der Beruf war, desto schwieriger kann dieses Unterfangen werden.

Der Aspekt der radikalisierten Zeiterfahrung spielt auch beim sozialen Altern eine Rolle und muss wohl nicht weiter erläutert werden. Wir Menschen im dritten Lebensalter beginnen zu begreifen, dass das Leben kurz ist, dass wir mehr Vergangenheit als Zukunft haben. In diesem Sinn kenne ich keine Menschen des dritten Lebensalters, die nicht „alt“ geworden wären.

Das soziale Altern

„Das soziale Altern ist aufgrund des kommunikativen, sozialen Wesens des Menschen einer der gravierendsten Aspekte, das Akzeptieren des Verlustes der Nächsten eine der am schwersten zu vollbringenden existentiellen Leistungen des Menschen.“[4]

Natürlich können wir neue Freunde finden, wenn unsere alten Freunde sterben. Auch neue Partner können uns über den Verlust eines geliebten Menschen hinweg helfen. Der oben zitierte Verlust der Nächsten meint jedoch, dass wir Menschen verlieren, welche Erlebnisse mit uns teilten, sodass plötzlich vertraute Lebenszusammenhänge und Üblichkeiten, der Horizont gemeinsamer Erfahrung und Bekanntschaft fehlen.

Lebenspartner, Freunde und Arbeitskollegen sind oft ein langes Stück des Lebens mit uns gegangen und teilen viele Erfahrungen mit uns. Ohne viele Worte können wir mit dem jeweiligen Gesprächspartner Erinnerungen auffrischen: „Weisst Du noch, damals…“ Doch der Verlust dieser vertrauten sozialen Kontakte liegt nicht unbedingt in erster Linie daran, dass wir im dritten Lebensalter Menschen durch den Tod verlieren. Viel häufiger sind die Pensionierung oder ein Wegzug Grund für den Verlust.

Zum sozialen Altern scheinen mir auch die Schwerhörigkeit sowie das Nachlassen der selektiven Aufmerksamkeit zu gehören. Denn sie können Menschen im dritten Lebensalter daran hindern, an grösseren Anlässen teilzunehmen, weil sie sich nicht mehr mit den übrigen Gästen unterhalten können. Mehr zu diesem wichtigen Thema später!

Ich kenne keine Menschen, die im dritten Lebensalter noch keine lieb gewonnenen Freunde, Geschwister, Klassenkameraden oder gar Lebenspartner verloren haben. In diesem Sinne sind auf dieser Ebene bereits alle „gealtert“.

Das kulturelle Altern

Mit „kulturellem Altern“ ist das Unvermögen gemeint, den eigenen, aber im Vergleich zu früher veränderten Lebensraum zu verstehen.

„Die eigene Identität und das eigene Normensystem mitsamt den für sie prägenden Erfahrungen sind in einem sozialen und kulturellen Feld herausgebildet worden, das in dieser Form nicht mehr besteht.“[5]

Wenn wir in Länder reisen, die sich wie Abu Dhabi in den letzten Jahren stark entwickelt haben, stellt sich die Frage, wie die alten Menschen mit der Entwicklung mithalten können. Der Grossvater des Scheichs von Abu Dhabi ist noch auf einem Kamel durch die Wüste geritten, die heutige Stadt gilt als eine der modernsten Metropolen der Welt.

Auch in der Schweiz können Konflikte des kulturellen Alterns krasse Züge aufweisen. So hat mir ein polnischer Pfarrer aus Zürich erzählt, dass polnische Grosseltern der Meinung sind, ihre jugendlichen Nachkommen sollten noch täglich den Rosenkranz auf Knien beten.

Kulturelles Altern zeigt sich also, wenn wir uns darüber beklagen, dass sich die junge Generation partout nicht mehr so verhalten will, wie wir es gelernt haben, oder wenn wir die Motive der jungen Generation nicht nachvollziehen können, obwohl wir mitten in ihrer Welt leben. Es gibt grenzenlos viele Beispiele von kulturellem Altern. Wir empfinden die Musik, welche die heutige Jugend gerne hört, nur als Lärm. Wir bedauern, dass die heutige Kunst keine richtige Kunst mehr ist. Wir können über die heutigen Witze nicht lachen. Wir empfinden frühere Zustände als besser: Früher hatte man noch keine Probleme mit der Waschmaschine, weil sie nicht 100 Funktionen bereithielt. Früher gab es wenigstens noch einen

ordentlichen Bankschalter, heute soll man alles selbst machen. Früher kümmerten wir uns noch um unsere Kinder, heute hängen die Eltern auf den Spielplätzen am Smartphone und kommunizieren nicht mit den Kindern. Früher konnten Kinder noch fantasievoll spielen, heute starren sie nur noch auf die Bildschirme ihrer Tablets. Das ist doch nicht normal! Früher galt Loyalität noch etwas, heute zählt nur noch das Geld. Früher hatte man noch Zeit füreinander, heute sind die Leute immer in Eile, weil sie zu viel machen. Früher half man sich in der Nachbarschaft noch aus, heute kennen die meisten Menschen nicht einmal die Nachbarn beim Namen etc. etc.

Kommen Ihnen diese Beschwerden bekannt vor? Wenn Sie sich darauf achten, werden Sie sich bestimmt dabei ertappen, dass Sie sich über die heutigen Lebensweisen, Umgangsformen, Umgangssprachen und oder Wertvorstellungen beklagen. Und das ist durchaus verständlich: In der Geschichte der Menschheit hat sich das Leben noch nie so schnell verändert wie heute.

Deshalb wird es für Sie und mich zu einer besonderen Herausforderung, nicht vorschnell kulturell zu altern.

Die schnelllebige Zeit von heute entfremdet uns wie keine Generation zuvor im Eiltempo von unserer Umwelt. Nur weil wir auch ein Smartphone haben und einigermassen mit der neuen technischen Waschmaschine umgehen können, heisst dies noch nicht, dass wir nicht kulturell gealtert sind. Es geht darum, dass wir die gegenwärtigen Wertvorstellungen, Lebensweisen, Umgangsformen, Umgangssprachen und Entwicklungen nicht verstehen und nachvollziehen können.

Diese erweiterte Sichtweise auf das Altern zeigt, dass wir von uns nicht behaupten können, wir seien im dritten Lebensalter nicht auf die eine oder andere Art gealtert.

Der Umstand, gealtert zu sein, soll uns jedoch nicht beunruhigen, vielmehr das Augenmerk auf die sich verändernden Lebensbedingungen lenken. Unser Körper wird mit den Jahren verletzlicher, unsere Psyche jedoch hat noch ein grosses Potential zu wachsen und unsere Persönlichkeit abzurunden. Wenn es uns gelingt, uns den realen Gegebenheiten zu stellen, erkennen wir die Chancen, die mit der neuen Identität zu Tage treten. Flüchten auch nicht vor den Aufgaben, die in dieser Lebensphase auf uns warten.

Phase IV: Die letzten Lebensjahre bis zum Tod

Dieses Lebensalter fängt irgendwann rund um den 80. Geburtstag an und endet mit dem eigenen Tod, der als Schreckensgespenst am Ende des Tages lauert oder aber bewusst in diese Phase integriert werden kann. Auch hier muss jedoch von einem individuellen Beginn der Lebensphase gesprochen werden. Sicher ist jedoch, dass der näher rückende Tod zu dieser Lebensphase gehört. Damit verbunden auch eine körperliche, geistige und emotionale Müdigkeit, die in eine allgemeine Erschöpfung übergehen kann.

Trotz dieser Müdigkeit stehen uns in der vierten Lebensphase viele Aufgaben bevor, die es zu meistern gilt und für die wir uns bereits im dritten Lebensalter rüsten sollten. Denn das vierte Lebensalter konfrontiert den Menschen mit massiven Einschränkungen und Grenzen. Grenzen des Lebens, Grenzen des Machbaren, Grenzen der Sinnhaftigkeit medizinischer Interventionen. Deshalb sollte der Mensch im vierten Lebensalter bereits gelernt haben, loszulassen. Schon gewohnt sein, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren und sich von Ballast zu befreien. Es müssen Strategien entwickelt werden, wie mit massiven Einschränkungen ein zufriedenes und erfülltes Leben geführt werden kann.

Eine Herausforderung für uns hier in der Schweiz stellt die Tatsache dar, dass es in unserer Gesellschaft keine Wertschätzung des Alters mehr gibt. Unsere Gesellschaft ist darauf programmiert, auf den Zenit des Lebens hinzuarbeiten, der heute allgemein bei 50 Jahren angesetzt wird, und empfindet das Leben nach dem Zenit als Niedergang. Das Alter, die Krankheit und der Tod werden als Versagen und Verlust empfunden.

Dies ist natürlich nicht in jeder Gesellschaft so. In Naples (Florida) zum Beispiel sind die Alten in der Mehrzahl und die gesamte Stadt ist auf alte Menschen ausgerichtet. In jeder erdenklichen Situation erhält der alte Mensch Hilfe und Unterstützung und wird trotz körperlicher Gebresten als vollwertiger Mensch behandelt. Beim Einkaufen wird auf das gemächliche Tempo der älteren Menschen Rücksicht genommen und die Plastiktaschen nur so weit gefüllt, dass der ältere Mensch sie zu Hause vom Auto in die Küche tragen kann. Der Einkaufswagen wird vom Personal hilfsbereit zum Auto geschoben, die Ware im Kofferraum verstaut. Die Spazierwege den Seen entlang sind weich und breit. Es haben auch ältere Menschen mit grossen Dreiradvelos Platz, die bewundernd gegrüsst werden, weil sie trotz Problemen Fahrrad fahren.

Zusätzlich möchte ich hier eine wunderschöne Geschichte wiedergeben, die mir eine Freundin aus Bahrain erzählt hat: „Ich kenne eine alte Frau, Joy, die ursprünglich aus Neuseeland kommt, die aber für viele Jahre nach Bahrain auf Besuch kam. Vor ein paar Jahren ging ich mit ihr in den Bazar. Joy war damals schon über 80 Jahre alt. Sie hat ganz weisse Haare, war aber immer noch gut zu Fuss. In einem Laden wurde sie ganz ehrfürchtig begrüsst. Die Angestellten kamen aus Indien. Der Kassier stand an seinem Pult und konnte seine Augen nicht mehr abwenden. Er fragte mich, wie alt denn die Dame sei. Schon bald hatte Joy alle Angestellten um sich herum. Diese kamen nicht mehr aus dem Staunen heraus, weil eine Frau mit weissen Haaren und in diesem hohen Alter noch im Bazar einkaufen ging. Joy bezahlte mit Kreditkarte, mehr staunen! Sie unterschrieb mit zittriger Hand und… noch mehr staunen! Zum Schluss gaben sie mir die Tasche zum Tragen und fragten Joy, ob sie nicht alle Angestellten segnen könne! Das tat sie dann auch. 🙂 🙂

Einer der Männer erklärte mir, dass man in Indien so alte Menschen nicht mehr auf der Strasse antreffe und auch in Bahrain gebe es das nicht. Vor allem nicht jemanden mit so weissen Haaren!“

Da wir jedoch in der Schweiz leben, wo diese Wertschätzung des Alters fehlt, müssen wir mit den Werten der hiesigen, heutigen Gesellschaft – die wir notabene mitgeprägt haben – zurechtkommen.

Vielleicht gelingt es uns sogar, durch unsere Einstellung zum Alter ein positiveres Altersbild zu prägen.

Abgesehen davon wird unsere grösste Herausforderung im vierten Lebensalter nicht die Gesellschaft darstellen, sondern unser eigener veränderter Blick auf das Leben. Irgendwann im vierten Lebensalter, vielleicht erst kurz vor dem Sterben, werden uns nämlich die Ziele, denen wir fast das ganze Leben lang nacheilten, nicht mehr wichtig sein.

Wir werden unsere Aufmerksamkeit vermehrt nach innen richten. Unerledigtes und vor Jahren Misslungenes wird bei uns anklopfen, obwohl wir eventuell nicht mehr wissen, mit wem wir vergangene Woche telefoniert haben. Wir werden unser Leben im Hinblick auf seine Nützlichkeit für die, die wir zurücklassen, betrachten und uns fragen, was wir noch tun können, damit unser Leben Sinn und Zweck erhält. Der Lebenssinn wird für uns zentral werden und im Zusammenhang mit dem Meistern unserer Lebensaufgabe stehen.

Dieser Wandel in unserer Gesinnung ist nicht zu unterschätzen. Auch wenn wir uns heute noch an neuen materiellen Gütern erfreuen mögen, wird es tatsächlich eine Zeit geben, in der wir uns fragen, wie dies möglich sein konnte. Wie Sie später im Buch erfahren, ist dieses Phänomen wissenschaftlich belegt. Wir können deshalb nicht darauf bauen, dass es bei uns bestimmt nicht so sein wird.

Eine Psychiatrie-Krankenschwester erzählte mir unabhängig von diesen Untersuchungen von ihren Erfahrungen, wenn sie zu Menschen gerufen wurde, die am Ende ihres Lebens nicht loslassen, respektive nicht sterben konnten. Die Gespräche mit den Sterbenden drehten sich immer um das gleiche Thema, welches eine 79-jährige Frau konkret verbalisierte: „Wie kann ich jetzt schon sterben müssen! Ich habe doch noch gar nicht richtig angefangen zu leben, mein bisheriges Leben macht keinen Sinn!“

Bedenken wir dabei, dass es bei dieser Sterbenden weder an der finanziellen Situation noch an ihrem Status lag, dass sie ihr Leben als scheinbar sinnlos erachtete. Sie hatte einfach ihr Leben lang Prioritäten gesetzt, die ihr nun vor dem Tod plötzlich unwichtig erschienen.

Dies sollte uns aufhorchen lassen, denn es scheinen Veränderungen auf uns zuzukommen, von denen wir nichts ahnen und die weder durch Anti-Aging noch durch medizinische Massnahmen abgeschwächt werden können.

Blandine-Josephine Raemy-Zbinden
Mai  2015


[1] Rentsch, Alt werden, alt sein, S. 168-170.

[2] Ebd., S. 168.

[3] Ebd., S. 169.

[4] Ebd., S. 170.

[5] Ebd., S. 170.

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